Analphabetismus in Deutschland. Was, so viele?
Vermutlich hat bei der einen oder dem anderen von Euch auch ein Buch unter dem Weihnachtsbaum gelegen. Vielleicht sogar eines zum Thema Psychologie oder Psychiatrie? Für viele Menschen sind Bücher immer noch das Medium um neue Informationen aufzunehmen oder sich einfach nur ein paar schöne Stunden zu machen. Für viele Menschen, aber nicht für alle.
Für heute habe ich mir vorgenommen Euch etwas über das Phänomen des Analphabetismus zu erzählen. Wir erfahren etwas über den funktionellen Analphabetismus und die sogenannte Einfache Sprache. Und zum Schluss möchte ich einen Kriminalroman vorstellen, der sich auf überraschende Weise mit diesem Thema auseinandersetzt.
Bleiben wir doch zunächst einmal beim Begriff des Analphabetismus selbst. Was genau bedeutet Analphabetismus? Man unterscheidet hier zunächst zwischen primärem und sekundärem Analphabetismus:
Primärer Analphabetismus bedeutet, dass ein Mensch weder Lesen noch Schreiben kann und es auch nicht gelernt hat. Über die Intelligenz dieses Menschen sagt das zunächst einmal gar nichts aus. Und durch die allgemeine Schulpflicht in Deutschland ist die Zahl der hiervon Betroffenen in Deutschland eher niedrig.
Häufiger kommt in unseren Breiten der so genannte sekundäre Analphabetismus vor. Was bedeutet das genau? Von einem sekundären Analphabetismus spricht man dann, wenn jemand das Lesen und oder Schreiben zwar irgendwann einmal erlernt hat, es aber im Laufe seines Lebens wieder verlernt hat.
Früher kam der sekundäre Analpabetismus hauptsächlich bei älteren Menschen vor. Sie haben in ihrem langen Berufsleben wenig mit geschriebener Sprache gearbeitet und dadurch das Lesen und Schreiben wieder verlernt.
Doch wir lesen auch außerhalb unseres Berufes, könnte man jetzt einwenden. Warum kommt es trotzdem zu dieser Form des Analphabetismus? Und warum sind inzwischen zunehmend auch jüngere Menschen davor betroffen?
Verantwortlich hierfür ist vor allem der Gebrauch elektronischer Medien, wie z.B. Radio und Fernsehen, wodurch zuerst das alltägliche Zeitungslesen überflüssig wurde. Mit der allgemeinen Verfügbarkeit des Telefons wurden auch kontinuierlich weniger Briefe geschrieben und eben auch weniger gelesen. Man konnte ja miteinander sprechen. Das ging schneller und war einfacher. Mit dem Siegeszug des Smartphones wurde die Kommunikation ohne Schriftsprache noch einmal vereinfacht, doch zumindest schrieben sich die Leute Textnachrichten.
Diese Phase Schriftverkehrs, für den man ja nun doch lesen können muss, steht jedoch ebenfalls vor dem Ende. Mittlerweile werden auch diese kurzen Texte durch Sprachnachrichten, Videobotschaften und so genannte Emojis ersetzt.
Halten wir nochmal fest: als primäre Analphabeten bezeichnet man Menschen, die niemals lesen gelernt haben. Als sekundäre diejenigen, die es wieder verlernt haben. Beide Begriffe enthalten keine Wertung, sie beschreiben nur eine Tatsache.
Vielleicht habt ihr schonmal den Begriff „funktioneller Analphabet“ gehört. Dieser Begriff ist nicht mehr nur beschreibend — er enthält auch eine Wertung.
Ein funktioneller Analphabet, so die Definition, beherrscht das Lesen nicht so, wie man es erwarten würde. Diese Menschen können theoretisch Lesen. In der Praxis funktioniert es aber nicht wirklich.
Zum funktionalen Analphabetismus gibt es Untersuchungen, die uns aufhorchen lassen: Etwa 14% der Erwachsenen in Deutschland sind funktionale Analphabeten. Das ist jeder siebte Erwachsene oder ungefähr 6 Millionen Menschen.
Diese 6 Millionen Menschen zwischen 18 und 64 Jahren können einzelne Sätze lesen oder schreiben. Zusammenhängende kürzere Texte können sie jedoch nicht verstehen, oder es kommt zu Missverständnissen.
Nun könnte man meinen, dass diese Menschen bestimmt nicht Deutsch als Muttersprache haben. Aber das ist ein Irrtum. Jeder zweite funktionale Analphabet ist deutscher Muttersprachler. Die meisten haben einen Schulabschluss und mehr als die Hälfte von ihnen sind berufstätig. Wir können also davon ausgehen, dass diese Menschen das deutsche Schulsystem mehr oder weniger erfolgreich durchlaufen haben.
Hat also die Schule versagt? Ja und Nein. Einerseits gelingt es den funktionellen Analphabeten tatsächlich ihre Leseschwächen zu verstecken. Andererseits findet in den Grundschulen erst seit wenigen Jahren wieder eine gezielte Leseförderung statt.
Hinzu kommen Umstände, die aus der Lernpsychologie gut bekannt sind: Kinder lernen am Modell. Wenn die Eltern nicht in Gegenwart ihrer Kinder lesen, werden auch die Kinder nicht oder nur widerwillig anfangen zu lesen.
Hinzu kommen falsche Belohnungssystems, die sogar in Schulen eingesetzt werden: Das gilt speziell für so genannte Tabletklassen. Das sind Schulklassen, die einen Tabletcomputer anstelle von gedruckten Büchern oder Arbeitsheften verwenden.
Hier werden die Kinder, wenn sie einen Text erfolgreich durchgearbeitet haben, mit Bildern, Tönen, Videoclips oder Spielen belohnt. Der Lerneffekt stellt sich rasch ein: Für ein Kind ist das Lesen keine Freude an sich, sondern mühselige Arbeit, die einen von der echten Verwendung des Tabletts abhält — nämlich dem Konsum von Bildmedien.
Kommen wir zurück in die Gegenwart und fassen wir zusammen: Der funktionelle Analphabetismus kann Resultat eines falschen Schulsystems sein, hinzu kommt aber in jedem Fall der oben beschriebene Medienkonsum und der generelle Verzicht auf das gedruckte Wort. Das Gelernte wird wieder verlernt, weil man es nicht mehr benötigt und weil man sich in einem sozialen oder beruflichen Umfeld bewegt, indem ebenfalls nicht gelesen wird.
Umstritten ist im Zusammenhang mit dem Funktionalen Analphabetismus auch die so genannte „Einfache Sprache“. Die Einfache Sprache ist der Versuch einer sprachlichen Inklusion von Menschen mit Lese- und Verständnisschwächen. Wie wird diese Inklusion erreicht?
Die Einfache Sprache formuliert Gedanken in Hauptsätzen, die einen klaren Aufbau zeigen, etwa die Abfolge Subjekt - Prädikat - Objekt. Auf Nebensätze wird weitgehend verzichtet. Die verwendeten Adjektive sind eindeutig. Man verzichtet wo es möglich ist auf Fremdworte. Die einfache Sprache wird hauptsächlich von Behörden und anderen staatlichen Stellen verwendet und richtet sich primär an Menschen mit sekundärem Analphabetismus.
Für Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen oder einem Migrationshintergrund und daher Verständnisschwierigkeiten der deutschen Sprache ist die einfache Sprache ein Segen. Dadurch können sie sich besser über die unterschiedlichsten Anliegen informieren und diese selbst bewältigen. Speziell das so genannte Behördendeutsch war für diese Menschen eine beinahe unüberwindliche Hürde.
Für funktionelle Analphabeten, denen es hauptsächlich an Übung, Gelegenheit oder Lernwillen mangelt, ist sie jedoch eine zweischneidige Sache. Diese Texte in der einfachen Sprache verursachen kaum Mühe und fördern somit die Lesefähigkeiten noch weniger. Letztlich ist dies jedoch eine Frage nach Huhn und Ei. Interessiert man sich nicht für das geschriebenen Wort, weil man das Lesen nicht richtig beherrscht? Oder ist die Lesefähigkeit funktionell eingeschränkt, weil man sich nicht für komplexere Texte interessiert? Gute Frage ….
Kommen wir nun von den eher soziologischen Überlegungen zu den psychischen Ursachen der Leseschwäche: Die ICD-10 kodiert den Analphabetismus nur indirekt im Bereich F unter 81.0 der Lese- und Rechtschreibstörung. Der Analphabetismus selbst hat demnach keinen Krankheitswert — eine Beeinträchtigung der Entwicklung der Lesefertigkeiten im Kinder- und Jugendalter jedoch schon. Die genaue Definition der Leseschwäche könnt ihr in der ICD-10 nachlesen, besonders interessant ist jedoch der abschließende Satz — ich les mal eben vor: „Während der Schulzeit sind begleitende Störungen im emotionalen und Verhaltensbereich häufig.“
Was bedeutet das genau? Die Leseschwäche ist demnach nicht nur eine reine so genannte „Werkzeugschwäche“, sondern kann selbst auch das Symptom weiterer psychischer Erkrankungen sein. Zusätzlich zum Diagnoseschlüssel F81.0 stellt die ICD-10 auch die Diagnosemöglichkeit F93 bereit: die Leseverzögerung infolge emotionaler Störung.
Solltet Ihr im Rahmen Eurer praktischen Tätigkeit also einmal mit einer Leseschwäche konfrontiert werden, solltet ihr unbedingt auch das emotionale Umfeld des Kindes berücksichtigen. Auch hier solltet ihr euch die Frage nach Huhn und Ei stellen: Entstehen die emotionalen Probleme durch die Leseschwäche? Beispielsweise durch übergroßen Druck von Eltern und Lehrern? Findet eine Ausgrenzung durch die Mitschüler statt? Wird die Leseschwäche mit einer Intelligenzschwäche verwechselt und das Kind dadurch chronisch unterfordert?
Oder ist die Leseschwäche selbst die Folge einer emotionalen Störung? Beispielsweise durch Traumatisierungen, wie die Trennung der Eltern, Gewalterfahrungen oder dem Tod eines nahen Verwandten.
Wenn die emotionalen Probleme durch die Leseschwäche entstehen, müssen den Eltern des Kindes Fördermöglichkeiten, z.B. von Seiten der Schule, angeboten werden. Hierzu gehören — bei einer klaren Diagnosenstellung — auch bestimmte Nachteilsausgleiche im Rahmen der schulischen Leistungsbewertung. Das gilt vor allem bei der Bewertung der Rechtschreibung. Denn häufig, jedoch nicht immer, geht eine Lesebeeinträchtigung auch mit einer Beeinträchtigung der Rechtschreibung einher. Ein Kind darf also wegen seiner schlechten Rechtschreibung nicht sitzen bleiben. Zumindest dann nicht, wenn keine weiteren gravierenden Leistungsmängel vorliegen.
Ist die Leseschwäche jedoch nicht die Ursache, sondern die Folge einer emotionalen Störung, muss zusätzlich zu der erwähnten Leseförderung auch eine psychotherapeutische Begleitung z.B. durch einen Kinder- und Jugendpsychologen erfolgen. Betroffene Eltern sollten sich in jedem Fall an den zuständigen schulpsychologischen Dienst wenden, über den diese Kontakte vermittelt werden können.
Fassen wir zusammen: Der funktionale Analphabetismus eines erwachsenen Menschen kann durch eine kindliche Leseschwäche mit Krankheitswert ausgelöst werden. Er kann aber auch das Produkt einer sozialen oder gesellschaftlichen Geringschätzung des Mediums Buches oder Textes sein. Bei normaler Intelligenz können die Betroffenen mittlerweile jedoch kostenlose Leseförderprogramme der Kommunen in Anspruch nehmen. Die Benutzung von Tabletcomputern kann sinnvoll und unterstützend sein, solange es sich hierbei um gezielte und pädagogisch sinnvolle Lernumgebungen handelt.
Grundsätzlich ist jedoch eher das gute alte Buch aus Papier zu empfehlen. Und hier gibt es inzwischen viele tolle Angebote, die auch Lesemuffel zum Lesen motivieren. Mir als Mädchen-Papa fällt da spontan „Lotta leben“ ein. Aber ich habe mir sagen lassen, dass es auch entsprechende Bücher für Jungs gibt.
Kommen wir aber nun zu dem am Anfang versprochenen Kriminalroman mit dem Titel „A Judgement in Stone“ zu deutsch „Urteil in Stein“ von Ruth Rendell aus dem Jahr 1977. Die Autorin beschreibt in diesem Buch einen Abschnitt aus dem Leben einer analphabetischen Hauswirtschaftlerin, die von einer großbürgerlichen Familie engagiert wird. Im Verlaufe der Handlung kommt es zu immer größeren Missverständen zwischen der Familie und ihrer Angestellten, bis es schließlich zum Mord kommt. Der Roman ist im engeren Sinne eigentlich kein Kriminalroman, denn es geht nicht um die Aufklärung eines Verbrechens, sondern nur um die akribische Beschreibung der Umstände, die zu dem Verbrechen führen. Interessanterweise ist der Hauptumstand genau der Analphabetismus der Haushälterin, den diese schamhaft vor ihrer Herrschaft verbirgt. In Rückblenden werden die Umstände beschrieben, die zum Analphabetismus führen: Eunice Parchman, so der Name der Hauptfigur, fehlte häufig in der Schule und musste sich zudem um ihre kranke Mutter und später ihren kranken Vater kümmern. Zusätzlich zeigt Eunice emotionale Störungen, sie erpresst andere Kinder und ist nicht in der Lage engere emotionale Bindungen, auch nicht zu ihren eigenen Eltern aufzubauen. Vermutlich wäre in ihrem Fall also die Diagnose F93 der Lesestörung infolge emotionaler Störungen angebracht.
In ihrem Berufsleben als Haushälterin und Pflegerin innerhalb ihrer Familie kommt sie mit Büchern kaum in Kontakt. Das Lesen wird für sie zu einer nutzlosen Beschäftigung und sie entwickelt allerlei Schliche um ihren sekundären und funktionalen Analphabetismus vor Außenstehenden zu verbergen. Durch Zufall wird sie als Haushälterin bei einer Familie angestellt, in der alle mit Genuss und voll Freude lesen. Die Familie verhält sich Eunice gegenüber wohlgefällig und stellt ihr sogar ein gebrauchtes Fernsehgerät zur Verfügung. Vor diesem wird Eunice nun ihre Abende verbringen. Allerdings wird sie gerade hierfür von ihren Arbeitgebern verspottet, die darin das typische Konsumverhalten eines Angehörigen der gesellschaftlichen Unterschicht sehen. Immer stärker klafft nun ein Riss zwischen Eunice und der Familie und immer mehr macht Eunice die Bücher im Haus hierfür verantwortlich. Aus Abneigung wird Wut und schließlich entlädt sich der Wutdruck und es kommt zum Mord.
In der großartigen Verfilmung des Romanes unter dem Titel „Biester“ deutet Chabrol diesen Konflikt noch intensiver an: In der letzten Szene erschießt die Mörderin überwältigt von ihrer Wut zunächst die Familie und richtet zum Schluss ihre Waffen hilflos auf das Bücherregal: dieses war der eigentliche Feind, den es zu entfernen galt.
Der Roman und seine Verfilmung sind für uns Heilpraktiker Psychotherapie deswegen so aufregend, weil Ruth Rendell auf die Definition des funktionellen Analphabetismus eingeht. Eunice kann nicht in dem Maße lesen, wie es ihr sozialer Kontext erwarten ließe: Sie steht ohnmächtig vor einer Anforderung, die sie nicht erfüllen kann, weil sie die Notwendigkeit nicht einsieht. Die Scham hierüber treibt sie nicht nur in die Isolation, sondern erhöht ihre Wut auf das geschriebene Wort selbst. Die Botschaft des Romanes lautet also nicht „fürchtet Euch vor den Analphabeten, sie können jederzeit zur Waffe greifen“. Ganz im Gegenteil. Die Botschaft lautet „wendet Euch den Analphabeten zu und gebt ihnen eine angemessen und achtsame Unterstützung, um ihre ungewollte Isolation vom geschriebenen Wort selbständig zu beenden“.
Pause
Ich hoffe ich konnte Euch einige neue Informationen und Ideen zu unserem Thema vermitteln. Tut ihr mir einen Gefallen? Abonniert meinen Podcast, vielen Dank. Und wenn ihr jemanden kennt, den dieser Podcast interessieren könnte — empfehlt mich gerne weiter. Ich würde mich freuen. In diesem Sinne komme ich zum Ende. Wenn Ihr wollt, hören wir uns nächste Woche wieder, dann mit einer Sendung über die mündliche Prüfung vor dem Gesundheitsamt.
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